Die Regentrinkerin

„Im Prisma der Regentropfen – Nina Petrick über den falschen Film und das richtige Leben“ – Der Tagesspiegel

Im Prisma der Regentropfen
Nina Petrick über den falschen Film und das richtige Leben
Der Tagesspiegel, Lothar Sand, 29.6.1997

Der erste Satz macht stutzig: „Die Sommerferien sind endlich zu Ende.“ Wer freut sich schon über den bevorstehenden Schulanfang? Anne, 14 Jahre alt, hat im zurückliegenden Sommer Verluste erlitten. Ihre beste Freundin Car ist nach Amerika zu ihrem Vater gezogen, der sich nach einer Ewigkeit wieder gemeldet hat. Anna weiß, daß trotz aller gegenteiligen Beteuerungen der Kontakt zu Caro immer brüchiger werden wird. Die gewinnt den Vater zurück, Anne verliert ihre Freundin. Damit nicht genug. Annes Vater der Fotograf, verläßt Frau und Tochter, um für eine Weile in Südamerika zu arbeiten. Sein Auszug ist nicht der erste, doch dieses Mal sieht es endgültig aus, schließlich packt er auch seine Bücher mit ein.
Anna will sich nicht mit Ha lbwahrheiten abfinden: Weil sie nie richtig gut tanzen wird, hört sie mit den Ballettstunden auf. Wenn es keine Car für sie gibt, will sie auch keine Gelegenheitsfreundin. Anne zieht sich zurück und beobachtet den imaginären Kameramann, der die Situationen ihres Lebens scheinbar auf Zelluloid bannt. Anne lebt in den Bildern, die der Kameramann ins Visier nimmt. Als sie am wenigsten damit rechnet, findet sie in Antonia eine Gleichgesinnte, die ihr Faible für Filme teil und mit der sie die Cafés und Plätze Berlins als Kulissen des immer größer werdenden Lebens erobert. Kompliziert wird es wieder, als zwei männliche Hauptdarsteller auftreten. Tim könnte eigentlich Annes Traumtyp sein, würden nicht Florians Blicke sie mitten ins Herz treffen. Das Gewissen meldet sich bald, eine Entscheidung muss gefunden werden. Annes Kameramann kann ihr Leben in unterschiedlichen Einstellungen nur abbilden. Leben muß sie es selbst. Daß das Ende dabei nicht bekannt ist wie bei einem zigmal gesehenen Schwarzweiß-Klassiker, macht es schwieriger aber auch spannender.
Nina Petricks Debütroman, als Manuskript ausgezeichnet mit dem Peter-Härtling-Preis, der einen Platz im Programm Beltz&Gelberg garantiert, erzählt unspektakulär und präzise von den Regen- und Glitzertagen einer Vierzehnjährigen, die von der Kindheit endgültig Abschied genommen hat und sich manchmal noch verwundert die Augen reibt. Die junge Berliner Autorin gestaltet unaufgeregt und ohne peinliche Verklärung Erfahrungen ihrer eigenen Adoleszenz. Am Ende liebäugelt sie mit der Rückkehr von Annes Vater. Die Heldin würde sicher auch seine Abwesenheit verkraften. Der Kameramann kann einpacken und Lebewohl sagen, kinoreif natürlich. Und Anna ist nicht im falschen Film, sondern im richtigen Leben.