Zweimal Marie

Buchrezension Kinderbuch-Couch

Buchrezension Kinderbuch-Couch – Nina Petrick „Zweimal Marie“

1989. Marie Roemer und Anne Bergmann wohnen in Ost-Berlin und Hamburg.
Sie sind eineiige Zwillingsschwestern und wissen es nicht, denn ihre
Eltern haben sich Anfang der 80er Jahre getrennt. Als Anne eine Baby
war, hat ihre Mutter die DDR illegal über Bulgarien verlassen. Nun
stehen sich die Mädchen nach 10 Jahren zum ersten Mal während eines
Ungarnaufenthalts gegenüber. Die Wahrheit kommt schnell ans Licht und
eine brillante Idee wird in die Tat umgesetzt, die Erich Kästners
Mädchen Luise und Lotte bereits vorgemacht haben.

Die 10-jährige Anne aus Hamburg – Eppendorf freut sich auf die
Klassenreise nach Ungarn an den Balaton. Anne lebt mit ihrer Mutter,
einer gut beschäftigten Journalistin, in einer WG mit Andreas, einem
Fotografen, Toni und ihrer kleinen Tochter Evi. Angeblich ist Annes
Vater gestorben. Wenn Annes Mutter im Stress ist und wirklich viel
arbeiten muss, dann wünscht sich Anne eine normale Kleinfamilie. Aber
eigentlich ist sie ganz froh mit allem, so wie es ist. Sie geht gern
in die Schule, in die Theater-AG und spielt mit ihrer Freundin Julia.
In den Nachrichten wird vermeldet, dass immer mehr DDR-Bürger das Land
über Ungarn verlassen.
Kurz bevor die Reise losgeht, erzählt Annes Mutter der Tochter die
Geschichte ihrer Flucht. Anne dachte immer, sie sei in Hamburg
geboren. Nun erfährt sie, dass die Mutter mit einem gefälschten Pass
über Bulgarien mit ihr, als sie kaum ein halbes Jahr alt war, aus der
DDR geflohen ist. Anne ist sauer, denn ihre Mutter legt immer so viel
Wert auf Ehrlichkeit. Wer weiß, was ihr noch alles verschwiegen wurde?

Als Anne dann in Ungarn mit der Klasse in Tihany ankommt, ist auch
eine Klasse aus der DDR in der Jugendherberge abgestiegen. Anne steht
plötzlich einem Mädchen gegenüber, dass aussieht wie sie. Sie ähneln
sich wie ein Ei dem anderen. Alles ist wirklich gleich, nur die Haare
von Anne sind etwas länger. Die beiden Mädchen sind sehr aufgeregt und
hoffen, dass sie bald miteinander sprechen können. Sie berichten sich
gegenseitig von ihrem zu Hause und Anne erfährt, dass ihr Vater lebt,
denn längst wissen die beiden Mädchen, dass sie Schwestern sind. Alles
stimmt überein, sogar das Geburtsdatum.
Johannes Roemer ist in der DDR ein bekannter Schauspieler. Sie wohnen
im Prenzlauer Berg am Kollwitzplatz und haben eine großzügig
geschnittene Dreizimmerwohnung. Den Mädchen bleibt nicht viel Zeit,
denn die Klassen aus den beiden deutschen Staaten unternehmen nie
etwas gemeinsam. Allerdings lockert sich das im Laufe der Reise. Die
Ost-Berliner Pioniere haben ein straffes Programm und pflegen ihr
Liedgut.

Anne erkennt nun, dass die Mutter sie erneut belogen hat. Auch Marie
ist von ihrem Vater enttäuscht. Beide Mädchen beschäftigt die Frage,
wie denn eigentlich entschieden wurde, wer bei wem nach der Trennung
bleiben sollte. Schnell entsteht die Idee nach einem bekannten
Kinderbuch, die Rollen zu tauschen, um endlich den so lang vermissten
Elternteil in die Arme zu schließen. Bei einem Frisör lässt sich Anne
die Haare schneiden.

Zu viele Fragen beschäftigen die Mädchen. Jede übt nun den Part der
anderen ein, sie legen Listen an und zeichnen Karten von dem fremden
Wohnungen und Lebensräumen des anderen.
Die Lehrer beobachten die beiden Mädchen und wollen sich nicht
einmischen. Aber Frau Brandt, Annes Lehrerin, nimmt sich vor mit Frau
Bergmann zu sprechen.

Auch wenn die Mädchen sich in Gefahr begeben und sich nie gegenseitig
besuchen können, die Mauer trennt sie, wagen sie es. Interessant ist,
dass beide seit vier Jahren Klavierunterricht haben. Anne
schauspielert gern und Marie schreibt gern.
Am Balaton suchen die Mädchen nun zwei gleiche Kieselsteine und
schwören, nie jemanden in ihr Geheimnis einzuweihen.
Anne hat zwar ein paar Probleme damit, die idealisierten Gebote der
Pioniere zu akzeptieren, aber ansonsten geht alles ganz gut. Am
Abreisetag beginnt das Abenteuer. Die Lehrer sind beim Abschied auch
in einer eigenartigen Stimmung, denn irgendwie stehen die politischen
Zeichen auf Veränderung.

Marie sitzt nun im Bus nach Hamburg und freut sich auf ihre Mutter.
Alles klappt gut bis zu dem Moment, wo Evi die neue Anne sieht. Sie
erkennt sofort, dass dieses Mädchen nicht die richtige ist. Alle
lachen und sagen, das liegt an der neuen Frisur und doch irgendetwas
stimmt nicht. Alles läuft gut, auch Julia ist nicht mehr eifersüchtig.
Nur die Theater-AG liegt Marie im Magen, denn sie soll ausgerechnet
die Hauptrolle spielen.

Anne gefällt es beim Vater ausgezeichnet. Sie entdeckt genauso wie
Marie in ihrem Zimmer, dass sie den gleichen abgeliebten Teddy
besitzen. Ein Stück Vertrautheit kehrt ein, obwohl Anne sich an die
doch triste Umgebung erst einmal gewöhnen muss. Aber sie sammelt
fleißig Altpapier und gewöhnt sich an den Gestank in den Straßen von
den knatternden Trabbis. Beide Mädchen umschiffen geschickt jede
Klippe, die trotz guter Vorbereitung dann auf sie zukommt. Anne kann
den Ofen nicht heizen und Marie fühlt sich vom Warenangebot überfordert.

Als Marie dann im Supermarkt Pesto und Penne, zwei Begriffe, mit denen
sie nichts anfangen kann, nicht findet, ist sie kurz vorm
Zusammenbrechen. Sie trifft Julia und ihr verrät sie das Geheimnis.
Julia gelobt nichts zu sagen. Aber da hat Frau Brandt schon den Brief
geschrieben, den Marie zu Hause nicht mehr verschwinden lassen kann.
Alles löst sich auf und die Mauer fällt. Eine gute Gelegenheit, um von
Hamburg nach Berlin zu fahren und die Familie wieder zusammenzuführen.

Nina Petrick schafft es mit Leichtigkeit, ohne die Handlung mit
politischen Hintergrundinformationen zu überhäufen, die Atmosphäre
dieser aufwühlenden Zeit vor 20 Jahren kurz vor dem Mauerfall in einer
unterhaltsamen Geschichte wieder in Erinnerung zu rufen. Die Berliner
Autorin bringt die unglaubliche Geradlinigkeit kindlichen Denkens
genau auf den Punkt. Anne und Marie können nicht fassen, dass beide
Eltern sie angelogen haben und nun müssen sie, trotz möglicher
Probleme, handeln. Immer wieder aus dem Perspektivwechsel von Anne und
Marie erzählt Nina Petrick vom spannenden Geschehen. Die Mädchen
vertauschen die vertraute Umgebung und tauchen in unterschiedliche
Welten ein, die zwar geographisch gar nicht so weit auseinander
liegen, aber durch die Mauer unüberwindlich sind. Anne und Marie
reisen in deutsche Städte, „die beide zu Deutschland gehören, aber
ihnen jeweils genauso fremd sind wie der Südpol“.

Sehr dezent, mit Humor aber ehrlich beschreibt die Berliner Autorin
die Unterschiede zwischen Ost und West und doch tritt dieser Aspekt
nicht in den Vordergrund. Nina Petrick bleibt in der Gedanken- und
Gefühlswelt der zehnjährigen Kinder und baut nur ab und zu ein paar
Komplikationen, bedingt durch die Unkenntnis der Mädchen, ein, die die
Kinder mit Witz und Einfallsreichtum überbrücken können. Die Eltern
vermuten nicht, dass sich ihre Kinder treffen könnten und so bemerken
sie auch gar nicht den Tausch der Mädchen. Sie schreiben die
beobachteten Veränderungen, eher einem Entwicklungsschub der Kinder zu.

Interessant ist, dass Nina Petrick am Beginn der Geschichte die
Neugier der Klassen aus dem Osten und Westen aufeinander nicht in den
Hintergrund drängt. Die Schüler aus Hamburg wollen wissen, was
Thälmannpioniere während ihres Aufenthalts im Ausland so veranstalten.
Auch die Lehrer kommen sich näher und durch sie fließen immer wieder
Informationen ein, die den Zeithintergrund verdeutlichen. Als die
Mädchen den Rollentausch beschließen, gewinnt die Geschichte an Fahrt.
Mutig sind die beiden Mädchen und sehr selbstbewusst, denn wer seine
Kinder belügt, der wird auch hinters Licht geführt. Aber eigentlich
ist ja eher die emotionale Seite in dieser Geschichte das wundervolle.
Wie berührend der Augenblick, als die Mädchen ihren so vermissten
Elternteil endlich in die Arme schließen können. Nina Petrick hat sich
beim Schreiben für das Präsens entschieden. Dadurch rückt die
unterhaltsame, sehr kurzweilige Verwechslungsgeschichte ganz nah an
den Leser heran.

Fazit:

Spannend und unterhaltsam liest sich diese Sommergeschichte von Anne
und Marie, die dann im November 1989 ihr glückliches Ende findet. Das
Happy End versöhnt und scheint doch nicht an den Haaren herbeigezogen.
Eine gelungene Geschichte – nicht nur für Mädchen. Und eins ist klar,
Erich Kästner wäre sicher zufrieden.

Karin Hahn